2022/II/Ges/13 Geschlechtsspezifische Medizin in Hamburg stärken und sichtbar machen

Der Landesparteitag der SPD Hamburg möge beschließen:

Die SPD Hamburg

I. setzt sich dafür ein, dass im Rahmen des Reformprozesses Masterplan Medizinstudium 2020 aus der letzten Wahlperiode oder dem entsprechenden Anschlussprojekt der derzeitigen Regierungskoalition das Thema der geschlechtsspezifischen Medizin zum Bestandteil der Approbationsordnung für Ärztinnen und Ärzte gemacht werden. Soweit Rahmenvorgaben für die Ausbildung in anderen Gesundheitsberufen ebenfalls im Bundesrecht verankert sind, setzt sich die SPD Hamburg dafür ein, dass auch dort das Thema jeweils ausbildungstauglich aufgenommen wird.

II. Zudem soll eruiert werden, welche Möglichkeiten und Ansätze es in den medizinischen Studiengängen am Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) und in den Studiengängen der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) im Department Gesundheitswissenschaften gibt, Themen der geschlechtsspezifischen Medizin in den vorhandenen Studiengängen unabhängig von der Änderung der gesetzlichen Vorgaben auf Bundesebene besser als bislang zu etablieren

III. und wie die notwendige Forschung im Bereich der geschlechtsspezifischen Medizin beispielsweise am UKE gestärkt werden kann durch Einrichtung einer Professur oder die gezielte Förderung von Forschungsprojekten oder -vorhaben mit einem Schwerpunkt in eben diesem Thema.

Begründung:

Im Koalitionsvertrag auf Bundesebene haben die Fraktionen von SPD, die Grünen und FDP vereinbart, die geschlechtsbezogenen Unterschiede in der Versorgung, bei Gesundheitsförderung und Prävention und in der Forschung zu berücksichtigen sowie Diskriminierungen und Zugangsbarrieren abzubauen. Die geschlechtsspezifische soll zudem Teil des Medizinstudiums, der Aus-, Fort- und Weiterbildung der Gesundheitsberufe werden (S. 86).

Frauen und Männer können unterschiedlich krank werden bzw. verschiedene Krankheiten zeigen bei Frauen und Männern unterschiedliche oder unterschiedlich stark ausgeprägte Symptome. Zuletzt wurden diese Unterschiede während der Corona-Pandemie deutlich: Frauen erkrankten zwar häufiger als Männer. Die Krankheit verlief bei Männern jedoch schwerer und führte häufiger zu Todesfällen. Ursächlich dafür waren wichtige Unterschiede der Immunsysteme, aber auch der soziale Umstand, dass Frauen häufiger als Männer in Pflegesituationen tätig waren, die eine Ansteckung begünstigten. Diese Erkenntnisse traten erst allmählich im Verlauf der Pandemie zu tage.

Das historisch inzwischen bekannteste Beispiel für die Unterschied zwischen Frauen und Männern ist der Herzinfarkt. Die Symptome bei Frauen und Männern unterscheiden sich. Während die männlichen Symptome in der allgemeinen Öffentlichkeit gut bekannt sind und Männern dadurch auch häufig schnell geholfen werden kann, sind die Symptome bei Frauen andere. Diese sind aber weniger bekannt. Dieser Umstand hat zur Folge, dass zwar mehr Männer einen Herzinfarkt erleiden als Frauen, aber letztlich mehr Frauen sterben, weil der Herzinfarkt zu spät erkannt oder falsche behandelt wird. Diese Erkenntnisse sind bereits seit den 1980er Jahren bekannt und haben seitdem das Thema überhaupt erst auf die Agenda gehoben. Das Feld der geschlechtsspezifischen Medizin als solches gibt es seit den 1990er Jahren. Es beschäftigt sich mit den sozialen und psychologischen Unterschieden der Symptome und Ausprägungen von Krankheiten bei Frauen und Männern, die durch unterschiedliche genetische und biologische Voraussetzungen begründet sind. Dabei ist es nicht nur auf die Unterschiede zwischen biologischen Geschlechtern begrenzt, sondern legt ihrer Forschung ein weites Verständnis von Geschlecht zu Grunde, dass das psychische und soziale Geschlecht mitumfasst.

Ursache dieses Phänomens, dass sich nicht nur im Fall des Herzinfarkts beschreiben lässt, ist, dass – auch aus historischen Gründen – der Mann in der Medizin bzw. in der medizinischen und auch pharmakologischen (Medikamenten-)Forschung in der Regel nach wie vor die Norm ist. Das hat Auswirkungen auf die Diagnose von Krankheiten mit Blick auf die Symptome oder auch die Medikamentenverabreichung. Zusätzlich sind typische Frauenerkrankungen wie Endometriose teilweise weniger intensiv erforscht als Krankheiten, die Männer und Frauen gleichermaßen betreffen können.

In der Vergangenheit ist das Bewusstsein für dieses Thema stetig gewachsen und hat deswegen nun auch seinen berechtigten Eingang in den Koalitionsvertrag gefunden.

Deutschlandweit bzw. im deutschsprachigen Raum setzen sich Mediziner:innen und Ärzt:innen schon länger dafür ein, dass das Problem eine bessere Sichtbarkeit erhält, und dass vor allem in diesem Bereich mehr geforscht werden muss, um das Problem überwinden zu können. Beispielhaft als Zusammenschlüsse seien der Deutsche Ärztinnenbund und der Bundesverband der Frauengesundheitszentren genannt. Auch der Frauengesundheitsbericht des Robert-Koch-Instituts (zuletzt 2020), der im Rahmen der gesetzlich vorgesehenen Gesundheitsberichterstattung des Bundesgesundheitsministeriums angefertigt wird, greift dieses Thema regelmäßig auf. Ebenso wird das Thema im Rahmen der nationalen Gesundheitsziele seit 2020 problematisiert.

Auch der Gesetzgeber ist in den letzten Jahren nicht untätig geblieben. So hat er im Jahr 2015 mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention (Präventionsgesetz – PrävG) eine wichtige Gesetzesänderung vollzogen. Der durch das Präventionsgesetz neu in die Vorschriften für die gesetzliche Krankenversicherung eingefügte § 2b Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) lautet: „Bei den Leistungen der Krankenkassen ist geschlechtsspezifischen Besonderheiten Rechnung zu tragen.“ Nach dieser Vorschrift müssen die Krankenkassen bei ihren Leistungen die entsprechenden geschlechtsspezifischen Forschungsergebnisse berücksichtigen und ihre Leistungen dementsprechend ausgestalten. Und das nicht nur bei Prävention und Gesundheitsförderung, sondern auch bei Diagnose und Therapie.

Um diese Norm mit Leben zu erfüllen ist es allerdings einerseits erforderlich, dass es die Forschungsergebnisse, die zu berücksichtigten sind, überhaupt gibt und dass zudem diejenigen, die Krankheiten diagnostizieren, Medikamente verschreiben, an Medikamenten forschen oder medizinisches Fachwissen in der Praxis, beispielsweise im Pflegealltag, anwenden, diese Forschungsergebnisse kennen und sie bereits in ihrer Ausbildung systematisch und strukturell verankert über die Problemlagen aufgeklärt werden. Hier setzt der politische Handlungsbedarf an. Denn hier existieren nach wie vor empfindliche Lücken sowohl in Medizinstudiengängen als auch in anderen Studiengängen und Ausbildung im Gesundheitsbereich, die im Zweifel vor allem zu Lasten der Gesundheit von Frauen gehen können.

Am 23. Februar 2022 wandte sich der Deutsche Ärztinnenbund mit einem offenen Brief unter anderem an das Bundesministerium für Bildung und Forschung und an das Bundesministerium für Gesundheit. In diesem Brief lobten sie ausdrücklich die im Koalitionsvertrag getroffene Vereinbarung zur geschlechterspezifischen Medizin. Sie machten aber auch deutlich, dass konkretes Handeln notwendig ist. In dem Brief wird unter anderem vorgeschlagen, die zunehmende Digitalisierung im Gesundheitswesen so zu nutzen, dass Fehler der Vergangenheit in der Gesundheitsvorsorge, d.h. der Mann als Norm, nicht wiederholt werden, sondern geschlechtsspezifische Aspekte von Anfang an besser berücksichtigt werden als in der Vergangenheit. Ebenso gibt es mit Datum vom 19. August 2021 einen Brief an den Medizinischen Fakultätentag des Ärztinnenbundes sowie des Hartmannbundes, in dem auf die Notwendigkeit hingewiesen wird, dass Thema strukturell und dauerhaft in der medizinischen Ausbildung zu verankern. In diesem Brief wird auf eine Studie zum Stand der Integration von Aspekten der Geschlechtersensibilität und des Geschlechterwissens in Rahmenlehr- und Ausbildungsrahmenplänen, Ausbildungskonzepten, -curricula und Lernzielkatalogen für Beschäftigte im Gesundheitswesen aus Mai 2020 im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums verwiesen, die deutlich machte, dass es bei der Berücksichtigung von geschlechtsspezifischen Aspekten im Medizinstudium beispielsweise in der Kardiologie und der klinischen Pharmalogie gute Fortschritte gibt. Dabei schnitten insbesondere die Modellstudiengänge, wie sie beispielsweise am UKE in Hamburg angeboten werden, insgesamt besser ab als die Studiengänge nach dem herkömmlichen Modell. Übergreifend wurde aber auch deutlich, dass die Lehre von geschlechtsspezifischen Unterschieden noch nicht strukturell fest und systematisch verankert ist, sondern häufig auf das Engagement einzelner Lehrpersonen zurückzuführen ist oder gar durch studentische Initiativen eingefordert werden muss. Ähnliche Defizite offenbarte das Gutachten auch für Ausbildungsberufe im Bereich der Gesundheit.

Anker für das strukturellen Durchsetzen von geschlechtsspezifischen Aspekten im Medizinstudium wäre die Approbationsordnung für Ärztinnen und Ärzte, die eine entsprechende Berücksichtigung normativ vorschreiben kann. Diskussionen über eine neuerliche Änderung dieser Ordnung im Zusammenhang mit dem Masterplan Medizinstudium 2020 gab es zuletzt im Jahr 2020. Die dort vorgesehen Vorschläge auch zur Reform der Approbationsordnung machen ohnehin eine Anpassung derselben notwendig. Dieser Prozess sollte nun insgesamt schnell wieder aufgegriffen werden. In diesem Zusammenhang ist es erforderlich dafür Sorge zu tragen, dass dem Thema der geschlechtsspezifischen Medizin in angemessener Weise Raum gegeben wird. Umsetzungsansätze (Integration in jedes einzelne Fach oder die Etablierung als eine fächerübergreifende Materie) finden sich beispielsweise im schon erwähnten Gutachten zum Stand der Lehre. Auch Ausbildungsordnungen anderer Gesundheitsberufe können dem entsprechend angepasst werden.

Ein Blick auf Hamburg zeigt, dass Aspekte der geschlechtsspezifischen Medizin zwischenzeitlich Einzug gehalten haben, beispielsweise in die Modulhandbüchern für die Studiengänge im Department Gesundheitswissenschaften an der HAW (z. B. englischsprachiger Masterstudiengang Health Science) und darüber dann auch in die Lehre transportiert werden können aber das bedeutet noch nicht zwingend, dass damit die regelhafte und institutionelle abgesicherte Lehre der entsprechenden Inhalte in der erforderlichen Tiefe abgesichert ist. Es ist davon auszugehen, dass – wie die Studie es auch annahm –es im Bereich der Lehre stark auf die einzelnen Lehrpersonen und deren Engagement ankommt, ob und in welchem Umfang das Thema Berücksichtigung findet oder nicht. Letztlich wird es darauf ankommen, was die jeweiligen Ausbildungs- und Prüfungsordnungen konkret vorgeben. Denn insofern gilt der alte Grundsatz, dass nur gelernt und gelehrt wird, was auch geprüft wird. Deswegen ist es zielführend, grundsätzliche Verbesserungen für Erkenntnisse der geschlechtsspezifischen Medizin über die Reform des Prüfungsrechts vorzunehmen.

Auch die notwendige Forschung – hier nur bezogen auf das UKE – lässt noch nicht deutlich genug und zweifelsfrei erkennen, dass geschlechtsspezifische Medizin standardmäßig Berücksichtigung findet. Auch hier gibt es aber Fortschritte: Bei der Beantragung von Forschungsgeldern fordern die großen Akteure wie beispielsweise die Deutschen Forschungsgemeinschaft ein, schon bei der Antragstellung Angaben zu machen inwiefern ein Projekt auch geschlechtsspezifische Aspekte berücksichtigt. Ein eigener Forschungsbereich oder eine Professur, die diesem Thema verpflichtet ist, gibt es am UKE nicht. Da deutschlandweit oder auch im deutschsprachigen Raum insgesamt eher wenig zu diesem Thema geforscht wird (in Deutschland ist die Charité mit dem Thema befasst, an der Universität Bielefeld gibt es dazu eine Professur; in Österreich gibt es zwei Professuren und in der Schweiz eine Professur), besteht hier erhebliches Potenzial für den Wissenschaftsstandort Hamburg, sich in diesem wichtigen Bereich zu etablieren, um damit nicht nur die Forschung und das Studium zu stärken, sondern auf der Basis von Forschungserkenntnissen beispielsweise auch für eine höhere Sensibilität und Bekanntheit des Themas in der Öffentlichkeit zu sorgen. Dadurch kann Hamburg einen wichtigen Beitrag leisten, die Gesundheitsfürsorge von mehr als 50% der deutschen Bevölkerung erheblich zu verbessern.

Beschluss: Annahme
Text des Beschlusses:

Der Landesparteitag der SPD Hamburg möge beschließen:

Die SPD Hamburg

I. setzt sich dafür ein, dass im Rahmen des Reformprozesses Masterplan Medizinstudium 2020 aus der letzten Wahlperiode oder dem entsprechenden Anschlussprojekt der derzeitigen Regierungskoalition das Thema der geschlechtsspezifischen Medizin zum Bestandteil der Approbationsordnung für Ärztinnen und Ärzte gemacht werden. Soweit Rahmenvorgaben für die Ausbildung in anderen Gesundheitsberufen ebenfalls im Bundesrecht verankert sind, setzt sich die SPD Hamburg dafür ein, dass auch dort das Thema jeweils ausbildungstauglich aufgenommen wird.

II. Zudem soll eruiert werden, welche Möglichkeiten und Ansätze es in den medizinischen Studiengängen am Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) und in den Studiengängen der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) im Department Gesundheitswissenschaften gibt, Themen der geschlechtsspezifischen Medizin in den vorhandenen Studiengängen unabhängig von der Änderung der gesetzlichen Vorgaben auf Bundesebene besser als bislang zu etablieren

III. und wie die notwendige Forschung im Bereich der geschlechtsspezifischen Medizin beispielsweise am UKE gestärkt werden kann durch Einrichtung einer Professur oder die gezielte Förderung von Forschungsprojekten oder -vorhaben mit einem Schwerpunkt in eben diesem Thema.

Beschluss-PDF:
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