2023/I/Recht/5 Audiodokumentation der (strafrechtlichen) Hauptverhandlung – keine Unterstützung für den derzeitigen Gesetzesentwurf!

Status:
Annahme

Der Landesparteitag möge zur Weiterleitung an den Bundesparteitag mit dem Auftrag zur Weiterleitung an die SPD-Bundestagsfraktion beschließen:

Die der SPD angehörenden Mitglieder der Bundesregierung und des Deutschen Bundestages werden aufgefordert, den Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz für ein Gesetz zur digitalen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung (Hauptverhandlungsdokumentationsgesetz – DokHVG) in der jetzt vorliegenden Form abzulehnen. Es ist ein neuer Entwurf vorzulegen, der einen effektiven Opferschutz gewährleistet, dysfunktionales Verteidigungsverhalten ausschließt und die tatsächlich entstehenden Kosten vorab klärt.

Begründung:

Im Koalitionsvertrag heißt es: „Wir machen Strafprozesse noch effektiver, schneller, moderner und praxistauglicher, ohne die Rechte der Beschuldigten und deren Verteidigung zu beschneiden. Vernehmungen und Hauptverhandlung müssen in Bild und Ton aufgezeichnet werden.“ In Umsetzung dieser Verabredung wurde daraufhin im Justizministerium der Entwurf eines Hauptverhandlungsdokumentationsgesetzes (DokHVG) vorgelegt. Danach sollen zukünftig Hauptverhandlungen vor den Großen Strafkammern der Landgerichte und vor den Oberlandesgerichten aufgezeichnet werden. Ursprünglich sah das DokHVG eine audio-visuelle Dokumentation vor (sprich sowohl Ton- als auch Bildaufnahmen). Nach heftiger Kritik beschränkt sich der aktuelle Entwurf auf Tonbandaufnahmen.

So nachvollziehbar auf den ersten Blick das Anliegen sein mag, mit modernsten Mitteln der Technik eine möglichst zuverlässige Dokumentation der Hauptverhandlung zu ermöglichen, ist der Entwurf in der vorliegenden Form dennoch abzulehnen:

Ungerechtfertigtes Misstrauen in die Gerichte

Der Entwurf ist, worauf u.a. die niedersächsische Justizministerin Wahlmann (eine ehemalige Strafrichterin) als eine der ersten hingewiesen hat, geprägt von einem unberechtigten Misstrauen in die Arbeitsweise und Gründlichkeit der Justiz. Dass die Audiodokumentation der Hauptverhandlung die Gerichte bei ihrer originären Aufgabe der Wahrheitsfindung unterstützen kann, bleibt eine bloße Behauptung in der vorliegenden Gesetzesbegründung. Es fehlt an empirischen Belegen dafür, dass eine Audiodokumentation die Wahrheitsfindung unterstützt und erleichtert, dass Fehlurteile hierdurch hätten verhindert werden können.

Der Gesetzentwurf benennt das zu adressierende Problem wie folgt: „Den Verfahrensbeteiligten – namentlich den Richterinnen und Richtern, den Staatsanwältinnen und Staatsanwälten und den Verteidigerinnen und Verteidigern – steht damit derzeit keine objektive, zuverlässige Dokumentation des Inhalts der Hauptverhandlung zu Verfügung. Sie müssen sich als Gedächtnisstütze jeweils eigene Notizen zum Inhalt der Hauptverhandlung, etwa der Aussage einer Zeugin oder eines Zeugen, machen. Das hat zur Folge, dass sich die Verfahrensbeteiligten nicht immer vollumfänglich auf das Geschehen in der Hauptverhandlung konzentrieren können. Auch können Meinungsverschiedenheiten über den Inhalt der Hauptverhandlung entstehen, da die jeweiligen Mitschriften nicht erschöpfend sein können und subjektiv geprägt sind.“

Dass ein Bedürfnis bestünde, einem regelmäßig vorkommenden vorsätzlichen Abweichen der Gerichte vom tatsächlichen Inhalt der Beweisaufnahme entgegenzuwirken, wird wohl niemand behaupten wollen, so dass diese Erwägung nicht geeignet sein kann, das erhebliche Missbrauchspotential einer Zugänglichmachung auch für die übrigen Verfahrensbeteiligten, namentlich die Verteidigung, aufzuwiegen

Es besteht keine objektive Notwendigkeit für eine permanente Aufzeichnung von Strafgerichtsverhandlungen in Ton; zeitweilige anlassbezogene Aufzeichnungen sind bereits jetzt zulässig.

Wie dargestellt fehlt es bereits an empirischen Nachweisen dafür, dass die fehlende Aufzeichnung von strafgerichtlichen Verhandlungen in der Vergangenheit zu Fehlurteilen führte.

Soweit gleichwohl ein Bedürfnis nach Ton- (oder auch Bild-)Aufzeichnungen gesehen wird, ist dies bereits jetzt zulässig. Bereits de lege lata sind „gerichtliche Ton- und Filmaufnahmen für justizinterne Zwecke und für Zwecke der Verteidigung (…) nicht ausgeschlossen, und zwar zur Verwendung als Gedächtnisstütze für den Vorsitzenden bei der Verhandlungsleitung, für das Gericht in der Beratung, für den Staatsanwalt oder Verteidiger zur Vorbereitung von Beweisanträgen oder Plädoyers, für Vorhalte (…) , für die Herstellung des Protokolls (…)“ – so der einschlägige Standardkommentar Meyer-Goßner/Schmitt, StPO mit GVG und Nebengesetzen, 65. Aufl., § 169 GVG, Rn. 11 m.w.N.

Der Umstand, dass in der Justizpraxis von dieser Möglichkeit so gut wie kein Gebrauch gemacht wird, ist ein Indiz dafür, dass das geplante DokHVG nicht gebraucht wird.

Tonaufnahmen von Zeugen nach dem DokHVG-E widersprechen dem Gedanken des Opferschutzes; die vorgesehenen Schutzmechanismen reichen nicht

Bereits jetzt benötigen die Vernehmungspersonen bei Gericht häufig viel Fingerspitzengefühl und Erfahrung, um von emotional aufgewühlten Zeugen brauchbare Aussagen zu erhalten. Würden diese nunmehr ausnahmslos vor ein Mikrofon gesetzt, wären belastende Aussagen in vielen Verfahren nicht mehr zu erwarten. Dies gilt insbesondere für Verhandlungen der organisierten Schwerstkriminalität einschließlich der Rotlichtkriminalität. Das Wissen, dass ihre Aussagen im Wortlaut gespeichert werden, schöbe der in diesen Bereichen ohnehin nicht sehr ausgeprägten Aussagebereitschaft von Zeugen künftig endgültig einen Riegel vor. Die im Referentenentwurf geäußerte Ansicht, ein ausreichender Schutz vor Missbrauch werde durch die Aufnahme der Ton-Aufzeichnungen in den Katalog des § 353d StGB hergestellt, offenbart eine große Unkenntnis strafrechtlicher Praxis.

  • 353d StGB stellt die verbotene Mitteilung über Gerichtsverhandlungen unter Strafe. Vor den Großen Strafkammern, erst recht in erstinstanzlichen Verfahren vor den Oberlandesgerichten, wird über Anklagen verhandelt, in denen nicht selten zweistellige oder auch lebenslange Freiheitsstrafen verhängt werden. Es spricht einiges dafür, dass jedenfalls auf Seiten der Angeklagten das Strafrecht insgesamt, insbesondere aber die in § 353d StGB angedrohte Höchststrafe von einem Jahr unter keinen Umständen geeignet ist, diesen Personenkreis zu beeindrucken und von einer missbräuchlichen Veröffentlichung abzuhalten.

Während die Offenbarungspflicht von Zeugen betreffend ihre Identität in den vergangenen Jahren aus Fürsorgegründen reduziert wurde (vgl. z.B. § 68 Abs. 2 bis 5 StPO), beschreitet der Entwurf des Ministers den gegenteiligen Weg: Jedes Wort eines Zeugen soll erfasst und auf zunächst unbestimmte Zeit festgehalten werden. Insbesondere ein nicht juristisch vorgebildetes Opfer wird als Zeuge den Eindruck erhalten, dass der Täter nach Belieben über seine Aussage wird verfügen können. Allein die Möglichkeit des Missbrauchs wird künftig Verfahren insbesondere in Bereichen der Schwerstkriminalität unmöglich machen, wenn das DokHVG in Kraft träte.

Die Sachkosten werden erheblich unterschätzt, Personalkosten vorsorglich nicht einmal dargestellt

Die den Ländern entstehenden Personal- und Sachkosten werden bereits im Referentenentwurf als „erheblich“ gemutmaßt. Bislang werden allerdings primär nur diejenigen – geschätzten – Kosten dargestellt, die für Hardwareanschaffungen benötigt werden, sowie die Kosten für Software einschließlich deren Weiterentwicklung und einmalige Entwicklungs- sowie Wartungskosten. Diejenigen Kosten, welche durch die notwendige Speicherung der Ton-Aufnahmen erforderlich werden, sind im Referentenentwurf übersehen worden. Nach groben Schätzungen erfordert das vom FDP-Minister geplante Gesetz eine Verdoppelung der Justizhaushalte der Länder, nur um die erforderlichen Sachmittelkosten finanzieren zu können.

Eine Angabe der Kosten für erforderliches IT-Personal erfolgt im Gesetzesentwurf ausdrücklich nicht. Fest steht jedoch bereits jetzt, dass hierfür ganz erhebliche Personalzuwächse in der Justiz erforderlich wären, um die beabsichtigten Ton- Aufzeichnungen durchführen zu können. Auch hier kämen auf jedes Bundesland jährliche Mehrkosten im mehrstelligen Millionenbereich zu.

Die Digitalisierung der Strafjustiz steckt noch in den Anfängen. Erst 2026 soll sie digital sein. Zahlreiche erste Umsetzungsschwierigkeiten lassen erkennen, dass dieses Datum deutlich „gerissen“ wird. Innerhalb dieses äußert fragilen Prozesses noch eine weitere gravierende technische Neuerung einzuführen, wird die ohnehin chronisch überlastete Strafjustiz handlungsunfähig machen.

Dysfunktionales Verteidigungsverhalten

Darüber hinaus besteht vor allem deshalb die Gefahr, dass der vorliegende Entwurf die Strafjustiz handlungsunfähig machen wird, weil der Gesetzentwurf keinerlei Handhabe für die Vorsitzenden vorsieht, um eine missbräuchliche Verwendung der Aufzeichnungen in laufender Hauptverhandlung zu verhindern.

Wer praktische Erfahrungen mit Strafprozessen hat, weiß um die Tatsache, dass die Aufzeichnung einer Hauptverhandlung die Basis für eine Vielzahl von Anträgen, Streitigkeiten und Mehrarbeit darstellen und deswegen den effizienten Fortgang einer Hauptverhandlung behindern wird. Als ausdrückliches Ziel des Gesetzes wird im Referentenentwurf genannt, dass die Dokumentation „schon während der laufenden Hauptverhandlung herangezogen werden [kann], um auftretende Fragen zum Inhalt eines Hauptverhandlungsereignisses zu klären“. Es ist damit vorhersehbar, dass es zu „Beweisaufnahmen über die Beweisaufnahme“ kommen wird (so auch die Stellungnahme der Generalstaatsanwältinnen und Generalstaatsanwälte vom 26.01.2023). Gerichtsprozesse können auf diese Weise erheblich in die Länge gezogen werden, gewissermaßen ad infinitum fortgesetzt werden mit ständigen Streitigkeiten über das bisherige Ergebnis der Beweisaufnahme.

Nachdem erst in der letzten Legislaturperiode auch als Folge der Verteidigerexzesse im NSU-Prozess das Beweisantragsrecht und die Möglichkeiten zu Rüge der Befangenheit eingeschränkt worden waren, wird hier ohne Not eine neue „Spielwiese“ für sog. Konfliktverteidiger geschaffen. Denn mit Aufzeichnung und Transkript wird zusätzlicher Verfahrensstoff produziert, der insbesondere von denjenigen Prozessbeteiligten genutzt werden wird, die kein Interesse am Funktionieren der Strafjustiz besitzen. Der Gesetzesentwurf eröffnet Verteidigungsstrategien Tor und Tür, die allein auf Verfahrensverzögerung angelegt sind. Verzögerungen wirken sich aber nur und stets zugunsten des Angeklagten aus.

Soweit die Koalitionsparteien beschlossen haben, Beweisaufnahmen (verstärkt) audio-visuell zu dokumentieren, geschah dies ausdrücklich mit dem Ziel, „Gerichtsverfahren (…) schneller und effizienter“ zu gestalten (Koalitionsvertrag 2021 — 2025, S. 84). Der Entwurf des DokHVG des Justizministeriums führt jedoch zu weitaus langsameren und aufwendigeren Verfahren.

Dementsprechend haben fast ausnahmslos alle Fachverbände den Gesetzesentwurf abgelehnt (s. zuletzt die Zusammenfassung in der Deutschen Richterzeitung von April 2023). Der Entwurf steht dem entgegen, was im Koalitionsvertrag zwischen den Parteien als Leitmaxime vereinbart wurde: „Gerichtsverfahren sollen schneller und effizienter werden.“ Das Gegenteil würde durch das DokHVG erreicht.

Schlussfolgerung:

Die geplante Neuregelung ist für das Funktionieren des Strafprozesses höchst problematisch und keineswegs im Interesse aller Verfahrensbeteiligten. Das beabsichtigte Gesetz ist in der jetzigen Form überflüssig und eröffnet dem Missbrauch Tor und Tür.

Die Strafjustiz hat kein Transparenzproblem. Sie hat ein Überlastungs- und Effizienzproblem. Bei der notwendigen Digitalisierung der Justiz gilt es, diese Probleme anzupacken – und nicht weitere zu schaffen.

Beschluss: Annahme
Text des Beschlusses:

Der Landesparteitag möge zur Weiterleitung an den Bundesparteitag mit dem Auftrag zur Weiterleitung an die SPD-Bundestagsfraktion beschließen:

Die der SPD angehörenden Mitglieder der Bundesregierung und des Deutschen Bundestages werden aufgefordert, den Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz für ein Gesetz zur digitalen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung (Hauptverhandlungsdokumentationsgesetz – DokHVG) in der jetzt vorliegenden Form abzulehnen. Es ist ein neuer Entwurf vorzulegen, der einen effektiven Opferschutz gewährleistet, dysfunktionales Verteidigungsverhalten ausschließt und die tatsächlich entstehenden Kosten vorab klärt.

Beschluss-PDF:
Überweisungs-PDF: