2021/II/Dig/1 Anonymität ist Meinungsfreiheit – Für ein gerichtliches Meldeverfahren statt gefährlicher Klarnamenpflicht

Status:
Zurückgezogen

Wir fordern die SPD Hamburg sowie – zur Weiterleitung durch dieselbe an den Bundesparteitag der SPD – die SPD auf Bundesebene dazu auf, sich klar und öffentlich gegen eine Klarnamenpflicht im Internet zu positionieren.

Darüber hinaus fordern wir die Einführung einer Möglichkeit, anonyme Accounts bei wiederholter Verbreitung rechtswidriger Inhalte per gerichtlichem Beschluss vom Anbieter der Plattform sperren zu lassen. Diese Regelung könnte beispielsweise als eine Änderung im Telemediengesetz umgesetzt werden, die eine gerichtlich angeordnete Sperrverfügung an die Adresse der jeweiligen Plattformdienste ermöglicht.

Begründung:

Probleme der Klarnamenpflicht

Vonseiten verschiedener PolitikerInnen kommt seit einigen Jahren immer wieder der Vorschlag, bei bestimmten Foren und Plattformen im Internet eine Klarnamenpflicht, also die verpflichtende Nutzung des bürgerlichen Namens bei der Accounterstellung, einzuführen. Dieser sicher gut gemeinte Vorschlag zeigt bei näherer Betrachtung die Distanz vieler PolitikerInnen zur digitalen Realität und stellt eine Gefahr für die Meinungsfreiheit, gerade von Minderheiten, dar [1].

Das genannte Ziel ist meistens, solchen Accounts den Schutz der Anonymität zu entziehen, die durch Beleidigungen, Drohungen und Falschinformationen auffallen und damit der Kommunikation im Netz schaden. Dass eine Klarnamenpflicht beim Erreichen dieses Zieles aber wirkungslos und allgemein schädlich für die Diskussion im Internet ist, wird nicht nur von NetzexpertInnen immer wieder betont, sondern lässt sich mittlerweile auch mit Daten belegen. Die Liste der Gründe hierfür ist lang, einige sollen hier genannt werden:

  1. Mangelnde Wirksamkeit

Drohungen und Beleidigungen erfolgen online nicht nur anonym, sondern oft auch unter freiwillig genutztem Klarnamen. Tatsächlich ist die durchschnittliche Aggression durch Accounts mit Klarnamen sogar höher als durch anonyme Accounts (siehe Grafik, Rost et al. 2016 [2]).

In Südkorea, das 2007 eine umfassende Klarnamenpflicht eingeführt hatte, hat diese Regelung keineneindeutigen Nutzen gezeigt. Wegen Verfassungswidrigkeit im Bereich der Meinungsfreiheit von NutzerInnen und Plattformen sowie der Bestimmung der eigenen Identität wurde sie 2012 wieder abgeschafft (Caragliano 2013 [3]).

  1. Gefährdung und Zensur statt Schutz

Konsequenzen hat die Identifizierbarkeit von Menschen im Internet eher dann, wenn diese auf privatem, nicht rechtlichem und womöglich rechtswidrigem Wege erfolgen. So können online geäußerte Meinungen jeglicher Art über den Klarnamen der Person z.B. dem Wohnort zugeordnet werden und zu Repressionen im echten Leben führen. Nicht umsonst ist „Doxxing“, also die Veröffentlichung privater Daten, eine im Netz übliche Attacke gerade gegen Frauen und Minderheiten. Anonymität stärkt und schützt die zivile Wehrhaftigkeit des/der Einzelnen.

Die Anonymität suchen daher in erster Linie nicht etwa Menschen, die Hass verbreiten. Es sind Minderheiten oder Menschen, die sensible Themen behandeln, die durch die Anonymität vor Gefahr und Diskrimination geschützt werden. Die Beispiele sind vielfältig: Mitglieder der LGBTQ-community, religiös oder politisch Verfolgte, anonym recherchierende JournalistInnen, WhistleblowerInnen, KünstlerInnen, Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen und viele mehr. Die Klarnamenpflicht ist ein Mittel der Zensur und nicht eins des Schutzes von Menschen im Netz [4][5].

  1. Überflüssigkeit und Unverhältnismäßigkeit

In strafrechtlich relevanten Fällen ist die Feststellung der Identität der AccountnutzerIn, so sie dem Anbieter bekannt ist, bereits möglich. §14 Abs. 2 des Telemediengesetzes [6] sieht bereits vor, dass Bestandsdaten an Strafverfolgungsbehörden herausgegeben werden können. Eine weitere Einschränkung der Anonymität ist daher überflüssig und unverhältnismäßig.

  1. Mangelnder rechtlicher Nutzen

Fälle wie der Prozess zwischen der ehemaligen österreichischen Grünen-Politikerin Sigi Maurer und einem nicht anonym auftretenden Mann haben gezeigt, dass Klarnamen für ein rechtliches Vorgehen gegen Belästigung nicht unbedingt als Beweis der Urheberschaft ausreichen [7]. Im Gegensatz zu den Gefahren in 2. bringt die Klarnamenpflicht für ein rechtliches Vorgehen gegen Hass im Netz entsprechend wenig.

  1. Probleme mit Datensicherheit

Dass private Daten bei großen Anbietern keineswegs sicher sind, haben Skandale bei fast jeder großen Nutzerdatenbank, darunter regelmäßig bei Facebook, gezeigt [8] Die Verpflichtung, diese Daten einer unsicheren Plattform zur Verfügung zu stellen, darf nicht Bedingung sein, um am Diskurs im Internet teilnehmen zu können.

Gerichtliches Meldeverfahren für Accounts als Alternative

Um rechtswidrigen Inhalten und ihren VerfasserInnen im Internet ein wirksames Mittel entgegen zu setzen müssen auf Plattformen und Foren im Netz verbindliche Regeln gelten. Diese sind unter anderem im Netzwerkdurchsuchungsgesetz [9] festgeschrieben.

Hierbei ist bislang jedoch lediglich die Löschung von Inhalten (Posts, Tweets) vorgesehen. Zudem liegt die Beurteilung der Inhalte in den Händen des privaten Anbieters. Zum einen ergibt sich daraus eine geringe Wirksamkeit, da sich Inhalte schneller produzieren lassen, als sie ausreichend beurteilt und gelöscht werden können. Zum anderen ist eine angemessene Kontrolle der Entscheidungsfindung bei privaten Anbietern nicht möglich. Weitergehende Mittel sind also notwendig, dürfen aber nicht den privaten Anbietern überlassen werden.

Bei NutzerInnen, die aus der Anonymität wiederholt rechtswidrige Inhalte verbreiten, reicht das Sperren dieser Inhalte im Einzelnen nicht aus. Für eine echte Wirkung muss es eine Möglichkeit geben, den Account selbst zu sperren. Damit würde die Aktivität nachhaltig unterbunden werden und selbst bei der Erstellung eines neuen Accounts durch den/die NutzerIn die Reichweite drastisch verringert (0 Follower bei Twitter, 0 Freunde bei Facebook etc.).

Um die verbindliche Durchsetzung rechtlicher Ansprüche zu gewähren, dabei aber der Meinungsfreiheit ausreichende Bedeutung zukommen zu lassen, sollten diese Entscheidungen von gerichtlicher Seite getroffen werden. Eine Sperrverfügung, die per gerichtlichem Beschluss einen Plattformanbieter wie Facebook oder Twitter dazu verpflichtet, einen bestimmten anonymen Nutzeraccount zu sperren, ist ein deutlich mächtigeres Mittel als die Sperrung von einzelnen Inhalten. Zur Veröffentlichung einer zustellungsfähigen Anschrift sind Anbieter bereits nach Netzdurchsuchungsgesetz verpflichtet. Durch die gerichtliche Kompetenz und die damit garantierte Achtung der Meinungsfreiheit wäre hiermit die notwendige Legitimation gegeben.

Dieser Vorschlag geht auf Ulf Buermeyer, Richter und Vorsitzender der Gesellschaft für Freiheitsrechte, zurück. In der rechtlichen Ausgestaltung würde es sich anbieten, ihn als Experten für Netz- und Freiheitsrechte hinzuzuziehen.

Die SPD ist immer die Partei gewesen, die sich für die gesellschaftliche Teilhabe Aller und für den freien, gesamtgesellschaftlichen Diskurs stark macht. Damit dies auch im 21. Jahrhundert und in der digitalen Welt der Fall ist, müssen wir uns gegen eine Klarnamenpflicht und für die Bewahrung der Anonymität im Internet starkmachen. Mit der Ablehnung dieser für die Meinungsfreiheit gefährlichen Auflage und dem Angebot einer wirkungsvollen Alternative verfolgt dieser Antrag proaktiv das Prinzip des „Sowohl-als-auch“, das die SPD seit jeher prägt.

Quellen:

[1] https://www.spiegel.de/netzwelt/web/wenn-ueber-fussball-so-gesprochen-wuerde-wie-ueber-das-internet-a-1266384.html
[2] Rost K, Stahel L, Frey BS (2016) Digital Social Norm Enforcement: Online Firestorms in Social Media. PLOS ONE 11(6): e0155923. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0155923

[3] David A. Caragliano – Real names and responsible speech: the cases of South Korea, China, and Facebook. https://www.ndi.org/sites/default/files/Caragliano_Stanford_Paper_Apr_5_2013.pdf

[4] https://netzpolitik.org/2016/gute-gruende-fuer-pseudonymitaet-und-gegen-eine-klarnamenpflicht/

in Langform und auf Englisch: https://www.eff.org/de/deeplinks/2011/07/case-pseudonyms

[5] Bambauer, Derek E., Censorship V3.1 (September 9, 2012). 18 IEEE Internet Computing 26 (May/June 2013); Arizona Legal Studies Discussion Paper No. 12-28. Available at SSRN: https://ssrn.com/abstract=2144004 or http://dx.doi.org/10.2139/ssrn.2144004

[6] https://www.gesetze-im-internet.de/tmg/

[7] https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-10/gerichtsurteil-sigrid-maurer-craftbeer-belaestigung-rufschaedigung

[8] https://netzpolitik.org/tag/datenleck/ (Übersicht)

[9] http://www.gesetze-im-internet.de/netzdg/